Volkskirche bleiben und Spiritualität vertiefen – wie geht denn das?

Anregungen zur spirituellen Dimension aus:
»Beziehungsweise Leben, hg: Daniel Enis & Björn Wagner, Inspirationen zum Leben und Handeln im Einklang mit Gott und Menschen, 2009, francke-verlag. (S. 152-161)

Seit der Konstantinischen Wende lebte immer die Spannung in der Großkirche zwischen:
Breite Masse und spirituellen, vertiefenden Minderheitsbemühungen
Volkskirche – Mönchstum

Lösungsversuche in der ev. Tradition: Das Pfarrhaus als neues Angebot eine Rollendefinition für Menschen mit spiritueller Sehnsucht nach mehr… Diese Lösung funktioniert heute so nicht mehr, was aber dann?

»Egal ob Orden, Pfarrhäuser oder andere Gemeinschaften. Dass eine ganze Gemeinde mit all ihren volkskirchlichen Mitgliedern ein intensives geistliches Leben entwickelt, ist ja vermutlich erst im Himmel zu erwarten – wenn überhaupt. Für die Erneuerung der Mainstream-Kirchen sind darum leicht zugängliche geistliche Gemeinschaften in ihrer Mitte von zentraler Bedeutung. Um lebendig zu bleiben, brauchen Gemeinschaften Raum für unterschiedliche geistliche Geschwindigkeiten und Intensitäten. Eine nach unten gerichtete Angleichung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner wäre tödlich. Deshalb sind volkskirchliche Ortsgemeinden auf geistliche Zentren in ihrer Mitte angewiesen, deren Ausstrahlung bis an die Ränder und darüber hinaus reicht.» S. 154

Wie geht das?

Antwort: 6 Kennzeichen solcher geistlichen Kerne (die wissenssoziologisch gesprochen gemeinsam abweichende Wissensvorräte pflegen und doch zugleich mit der Mehrheit kommunizieren):

  1. gemeinsamer geistlicher Lebensstil: (sehr coole Beschreibung folgt)…»die eigentliche Arbeit besteht in der Auswahl, Kombination und Anpassung vorhandener (spiritueller) Möglichkeiten»… damit ein eigenständiger Remix ensteht, »bei dem die Anschlussfähigkeit für die Menschen des jeweiligen Ortes zum wichtigsten Kriterium werden kann.» Walter Faerber denkt an Kindergottesdienst- und Konfirmandenerfahrungen, sieht aber das Fehlen von erwachsenen Modellen als Pionieraufgabe… AUFGABE: finde gemeinsame Formen geistlicher Praxis (Andachten, Gebetszeiten).154f
  2. Dichtes Kommunikationsnetz: Ich denke aus wissenssoziologischer Perspektive betont Faerber darum zurecht: „Der Aufbau einer neuen Gemeinschaft vollzieht sich vor allem durch gemeinsame Gedankenarbeit» 156»Ein entscheidender Faktor dafür ist die Geschwindigkeit, mit der Gedanken unter den Mitgliedern der Gemeinschaft zirkulieren können.» Im Web2.0-Zeitalter mit asynchronen Beteiligungsmöglichkeiten sind neue Formen, die zu den bekannten hinzutreten können. Kotenpunkte sind für Netzwerk wichtig: wo »regelmäßige, verlässliche Kontaktaufnahme zum Netzwerk möglich ist» S. 157 (Pfarrhäuser könnten hier heute überfordert sein, aber möglich).
  3. Gemeinsame Theologie: » Theologie besteht ja nicht in der mantrahaften Wiederholung vertrauter Lehrsätze, sondern in der Suche nach der Handschrift des lebendigen Gottes mitten in der bunten Vielfalt der Wirklichkeit. Theologie ist Expedition ins Unbekannte. … Ziel ist aber eine Gemeindetheologie, die es menschen ermöglicht, die Zusammenhänge ihrer Lebenswirklichkeit vom Evangelium her einzuordnen und zu beeinflussen.» 158 (Perspektive: neue Bildungslust, Pioniere des Denkens auch für die Welt).
  4. Eine belastbare Beziehungskultur: …die Entwicklung von geringer Neurotizität geprägter Umgangsstile als bewusstes Ziel… Mein Kommentar: Endlich-Leben-Gruppen werden da unterstützend wirken.
  5. gemeinsame Produktion: alle geistlichen Gemeinschaften der Geschichte (Klöster) hatten eminenten Einfluss als Modellwerkstätten… »Die Schaffung echter Arbeitsplätze könnte dazu führen, dass Gemeinden auf neue Weise ernst genommen würden.» Mit Haendeler stößt er ins gleiche Horn: Christen haben gerade für die neuen Netzwerkkulturen eine Ethik einzubringen, die materiell positive Effekte auslösen würde (Modelle kann er nicht nennen…)
  6. Gemeinsamer Dienst in der Kirche: …mit missionaler Präsenz in der Umgebung (enkulturierte Aktivitäten).

Hier diskutiert er die Spannungsfelder, die bleiben werden:
– kirchliches Binnenmillieu (mit wenig ausgeprägter Spiritualität) – kleine spirituell aktive Gruppen
Er fordert ein »faires Miteinander» der beiden Welten:
»Es muss immer wieder ausgehandelt werden, was die geistliche Zelle für die Ortsgemeinde leistet und was nicht.»
Geistliche Gemeinschaften müssen die »unterschiedlichen geistlichen Geschwindigkeiten» akzeptieren (keinen gesetzlichen Druck ausüben)
Rolle des Pastors: Vermittlung zwischen beiden Welten

Wie entstehen solche Zellen?

  • Gemeinde fördern die Gründung
  • Gemeinden adoptieren vorhandene Bewegungen

Wichtig: klare Verträge zu gegenseitigen Rollen, Pflichten, Erwartungen…

Zukunftsmusik: Wenn – nicht nur aus finanziellen Gründen– das flächendeckende System einmal aufgegeben würde, können geistliche Gemeinschaften neu in die leeren Gebäude (Kirchen, Pfarrhäuser) mit geistlichem Leben einziehen…

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Mein Kommentar aus Lemgoer Perspektive dazu:
Ich stimme dem Autor zu. Die Stärke seines Vorschlags ist es, die volkskirchliche Situation ernst zu nehmen und nicht der Versuchung der unkritischen Übernahme von freikirchlichen Modellen (»wissenssoziologisch definiert: Sektenmodelle») zu verfallen. Und zugleich die Realität einer über 1200jährigen Spannung in unserem Kontinent ernst zu nehmen und dennoch eine zeitgemäße Lösung zu suchen:

Wir haben in Lüerdissen eine recht junge Dorfkirche (70ger Jahre), die sich als geistliches Zentrum eignet, aber nicht als kirchliches Zentrum im klassischen Sinne (einer Betreuungsgemeinde).
Hier sollten wir mit diesem Paradigma experimentieren: geistliche Gemeinschaft, die in Volkskirche ein relativ (vertraglich klar definierter) selbständiger Faktor ist und doch innerhalb der Kirche eine dienende Funktion (in Teilbereichen) einnimmt.

Für die Entwicklung einer konkreten Praxis ist noch einiges an Denkarbeit nötig…

NACHTRAG: 25. 5. 2012:

Nun ist die Lüerdisser Kirche als Gebäude für 3 Jahre an eine glaubensfördernde Erlebnisausstellung „Credoweg“ ausgeliehen. Damit startet das Experiment wie solch eine Raum regional und überregional seine spirituellen Wirkungen entwickeln kann. Hoffentlich gelingt es – auch über die 3 Jahre hinaus!

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